Kurz vor Beginn des Winters begab ich mich in ein schönes neues Land in Minecraft, wählte mit Bedacht einen hübschen Bauplatz und stellte innerhalb von etwa einer Stunde einen gewaltigen sechsstöckigen Rohbau her. Riesige Wohnflächen, jedoch weder Innen- noch Außenwände, das Ganze lediglich getragen von Eckpfeilern (wegen dem realistischen Aussehen) und flankiert von einem Treppenhaus.
Das Ganze nannte ich „Minecraft-WG“ und vermietete die „Wohnungen“ an junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, mit denen ich im Jugendtreff regelmäßig zu tun habe. Sie bekamen einen Mietvertrag mit Grundregeln, bezahlten 5 Euro Kaution und hatten drei Monate Zeit, die leere Wohnfläche in eine fantasievolle Wohnung zu verwandeln. Im Januar sollte dann ein Gewinner gekürt werden. Kriterien waren Ästhetik, Einsatz, Sozialverhalten, Kreativität und Technik.
Ziel des Projekts: Das Thema „Aus dem Elternhaus ausziehen“ spielerisch zu bearbeiten, da es für diese Gruppe Heranwachsender sehr angstbesetzt ist.
Von acht Heranwachsenden hielten fünf bis zum Schluss durch und gestalteten meist allein ihre Wohnung sehr schön. Einer flog wegen Betrugsversuchs aus dem Projekt und zweien ging die Puste aus, als sie bemerkten, dass dahinter Arbeit steckt.
Was in den drei Projektmonaten alles passierte, ließ mich und meine Kollegen oft staunen. Die Bedienung des Spiels lernten auch diejenigen schnell, die es zuvor nie gespielt hatten. („Minecraft ist easy, das können sogar Erwachsene.“) Man kann praktisch jedes Material im Spiel abbauen und daraus neue Sachen bauen. Mit einer Werkbank kann man sich auch Werkzeuge und Gegenstände herstellen und mit einem Ofen können Materialien verändert werden (Eisenbarren aus Eisenerz oder Glas aus Sand schmelzen z.B.).
Wie ganz viel Lego, ein bisschen Modelleisenbahn und niemals Mangel an Steinen oder Schienen.
Die erste Schwierigkeit für die Teilnehmer waren die elementaren Regeln des Zusammenlebens: Fast keiner war in der Lage, die im Mietvertrag festgehaltene Regel der Privatsphäre der Wohnung einzuhalten. Und wenn man schon einmal dabei war, in einer fremden Wohnung zu stöbern, dann war die Versuchung hoch, begehrte Materialien aus dem Vorrat des Wohnungsbesitzers mitgehen zu lassen.
Kurz: Es wurde geklaut und Vorwürfe wurden erhoben und das Jugendtreff-Team fand sich in der Rolle des Streitschlichter-Gerichts wieder. Der Haupt-Täter gestand irgendwann und bekam Sozialaufgaben aufgebrummt, wenn er weiter mitmachen wollte. Er sollte Material sammeln und diese dann der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Dies klappte mittelmäßig, er tat das zwar, brauchte aber so lange dafür, dass eigentlich niemand mehr davon profitierte.
Auch destruktives Verhalten trat auf. Da man andere Spieler nicht direkt angreifen konnte, kam einer auf die Idee, andere mit Lava zu überschütten oder Sprengfallen zu bauen, was diejenigen, die ernsthaft bauen wollten, ziemlich nervte. Um dem aus dem Weg zu gehen, begannen Teilnehmer, heimlich unterirdisch Vorratslager anzulegen oder ganz woanders zu bauen.
Die zweite Schwierigkeit war die Frage, wer mit wem wohnen wollte. Da ging es um beste Freunde und zweitbeste Freunde und so wechselten die WG-Paarungen ein paar Mal.
Das nächste Thema war Aufgabenteilung und die Erfahrung, dass wenn jeder auf den Anderen wartet, letztlich keiner etwas tut. Und es wurde viel diskutiert: Über Baustile, Anstrengung, Sozialverhalten und über die Rolle des Jugendtreff-Teams.
Die Teilnehmer bauten ein Dorf unweit der Minecraft-WG und legten fest, dass wir Erzieher und Sozialpädagogen dort nichts zu sagen hätten. Sie wollten unsere Regeln nicht mehr, sondern frei sein. Dies wurde ihnen gewährt.
Nach nicht einmal einer Woche fingen sie an, sich selbst Regeln zu geben, da sie geschützt sein wollten vor Übergriffen und Diebstählen. Außerdem sollte es Gerechtigkeit geben und Anerkennung der Arbeit Einzelner.
Und so wurde das Minecraft-Projekt zu einer Lernplattform der demokratischen Bildung par excellence 🙂
Zum Stichtag führte jeder stolz seine Wohnung vor, erklärte seine Absichten und Design-Ideen, wurde gelobt und nach zwei Tagen Diskussion in der Jury des Jugendtreff-Teams stand der Sieger fest. Die anderen erhielten jeweils Preise in einer Kategorie und so waren alle glücklich, die es bis zum Ende geschafft hatten.