Archiv der Kategorie: Medienpädagogik

Regeln zur Internetnutzung

Gerade kam mir eine Forsa-Studie der DAK unter die Finger- zwar schon von 2015, aber immer noch von der Bundesdrogenbeauftragten dazu genutzt, zum Beispiel anlässlich der gamescom 2017 vor den schrecklichen Gefahren der Computer- und Internetnutzung zu warnen. In dieser Studie, in der Eltern von Kids zwischen 12 und 17 Jahren befragt wurden, wird vor allem angeprangert, in wie vielen Familien es offenbar überhaupt keine Regeln zum Thema Internetnutzung gibt: Weder zeitlich, noch inhaltlich, noch wie das Kind das Netz nutzt oder wo es das tut. Das scheint sehr bedenklich.

Ich kenne auch viele Familien, die kaum Regeln zur Ernährung haben, sondern einfach kochen und zusammen essen. Erziehung passiert hier durch Vorbild, familiäre Rituale und und positive Gespräche über Ernährung.

So etwas wünsche ich mir für Familien zum Thema Internetnutzung: Man ist Vorbild, nutzt Internet-Angebote zusammen mit den (kleinen) Kindern, spricht über Inhalte, nimmt die Kinder ernst, hat eine fundierte Meinung, diskutiert mit den (größeren) Kinder – und braucht gar keine Regeln, weil die Kinder den souveränen Umgang mit den Angeboten des Internets und mit Unterhaltungssoftware selbstverständlich lernen.

Damit will ich keineswegs behaupten, dass es keine Suchtgefahr gibt. Es gibt Videospielsüchtige, Chatsüchtige und vor allem Pornosüchtige (das sind dann eher die erwachsenen Männer). Alles, was Spaß macht, birgt eine gewisse Suchtgefahr. Vor allem für Menschen, die wenig sozialen Halt empfinden oder denen Bewältigungsmöglichkeiten für die Herausforderungen ihres Lebens fehlen.

Meiner Meinung nach ist es nicht zielführend, Eltern vor Suchtgefahren im Internet/bei Videospielen zu warnen und dafür Jugendliche anzuführen, die deutlich mehr spielen oder chatten, als die Eltern es für gut halten.  Das führt zu ständiger Angst und Überwachungshaltung bei den Eltern inklusive schlechtem Gewissen, wenn sie ihr Kind doch mal ungebremst ins Netz lassen. Und es führt dazu, dass die Kids ihnen unsinnig erscheinende Regeln unterlaufen, die Eltern anlügen und sie möglichst im unklaren darüber lassen, welche Dinge ihnen im Internet begegnen.

Kinder spielen Lego mit dem Tablet
Lego spielen virtuell

So kann Erziehung nicht funktionieren. Besser wärs, sich nicht nur auf die rein zeitliche Nutzung des Kindes zu konzentrieren, sondern sich mit dem Sprössling darüber zu unterhalten, was er da so erlebt, was ihm wichtig ist. Jugendliche sind erstaunlich anfällig für echtes Interesse ihrer Eltern! Dann legen sie los und erzählen davon, wie sie seit über einem Jahr einen sehr erfolgreichen Clan aufbauen in ihrem Spiel oder wie sie sich über sich selbst ärgern, weil sie Zeit totschlagen mit einem Handyspiel, das sie selbst eigentlich blöd finden.

Ich war selbst bei der gamescom 2017 (zusammen mit der mittlerweile 20-jährigen Tochter) und habe dort einige Familien gesehen, wo Eltern und Großeltern zusammen mit den Kindern bestaunt haben, was die Welt der Videospiele alles bietet. Das ist mal eine gute Grundlage, um sich fit für die Medienerziehung zu machen und von den Kindern ernst genommen zu werden.

Schöner wohnen in Minecraft

Kurz vor Beginn des Winters begab ich mich in ein schönes neues Land in Minecraft, wählte mit Bedacht einen hübschen Bauplatz und stellte innerhalb von etwa einer Stunde einen gewaltigen sechsstöckigen Rohbau her. Riesige Wohnflächen, jedoch weder Innen- noch Außenwände, das Ganze lediglich getragen von Eckpfeilern (wegen dem realistischen Aussehen) und flankiert von einem Treppenhaus.

 

Rohbau bei Tag

Das Ganze nannte ich „Minecraft-WG“ und vermietete die „Wohnungen“ an junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, mit denen ich im Jugendtreff regelmäßig zu tun habe. Sie bekamen einen Mietvertrag mit Grundregeln, bezahlten 5 Euro Kaution und hatten drei Monate Zeit, die leere Wohnfläche in eine fantasievolle Wohnung zu verwandeln. Im Januar sollte dann ein Gewinner gekürt werden. Kriterien waren Ästhetik, Einsatz, Sozialverhalten, Kreativität und Technik.

Ziel des Projekts: Das Thema „Aus dem Elternhaus ausziehen“ spielerisch zu bearbeiten, da es für diese Gruppe Heranwachsender sehr angstbesetzt ist.

Minecraft-WG fertig

Von acht Heranwachsenden hielten fünf bis zum Schluss durch und gestalteten meist allein ihre Wohnung sehr schön. Einer flog wegen Betrugsversuchs aus dem Projekt und zweien ging die Puste aus, als sie bemerkten, dass dahinter Arbeit steckt.

Was in den drei Projektmonaten alles passierte, ließ mich und meine Kollegen oft staunen. Die Bedienung des Spiels lernten auch diejenigen schnell, die es zuvor nie gespielt hatten. („Minecraft ist easy, das können sogar Erwachsene.“) Man kann praktisch jedes Material im Spiel abbauen und daraus neue Sachen bauen. Mit einer Werkbank kann man sich auch Werkzeuge und Gegenstände herstellen und mit einem Ofen können Materialien verändert werden (Eisenbarren aus Eisenerz oder Glas aus Sand schmelzen z.B.).
Wie ganz viel Lego, ein bisschen Modelleisenbahn und niemals Mangel an Steinen oder Schienen.

Die erste Schwierigkeit für die Teilnehmer waren die elementaren Regeln des Zusammenlebens: Fast keiner war in der Lage, die im Mietvertrag festgehaltene Regel der Privatsphäre der Wohnung einzuhalten. Und wenn man schon einmal dabei war, in einer fremden Wohnung zu stöbern, dann war die Versuchung hoch, begehrte Materialien aus dem Vorrat des Wohnungsbesitzers mitgehen zu lassen.

Kurz: Es wurde geklaut und Vorwürfe wurden erhoben und das Jugendtreff-Team fand sich in der Rolle des Streitschlichter-Gerichts wieder. Der Haupt-Täter gestand irgendwann und bekam Sozialaufgaben aufgebrummt, wenn er weiter mitmachen wollte. Er sollte Material sammeln und diese dann der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Dies klappte mittelmäßig, er tat das zwar, brauchte aber so lange dafür, dass eigentlich niemand mehr davon profitierte.

Auch destruktives Verhalten trat auf. Da man andere Spieler nicht direkt angreifen konnte, kam einer auf die Idee, andere mit Lava zu überschütten oder Sprengfallen zu bauen, was diejenigen, die ernsthaft bauen wollten, ziemlich nervte. Um dem aus dem Weg  zu gehen, begannen Teilnehmer, heimlich unterirdisch Vorratslager anzulegen oder ganz woanders zu bauen.

Die zweite Schwierigkeit war die Frage, wer mit wem wohnen wollte. Da ging es um beste Freunde und zweitbeste Freunde und so wechselten die WG-Paarungen ein paar Mal.

Das nächste Thema war Aufgabenteilung und die Erfahrung, dass wenn jeder auf den Anderen wartet, letztlich keiner etwas tut. Und es wurde viel diskutiert: Über Baustile, Anstrengung, Sozialverhalten und über die Rolle des Jugendtreff-Teams.

Die Teilnehmer bauten ein Dorf unweit der Minecraft-WG und legten fest, dass wir Erzieher und Sozialpädagogen dort nichts zu sagen hätten. Sie wollten unsere Regeln nicht mehr, sondern frei sein. Dies wurde ihnen gewährt.
Nach nicht einmal einer Woche fingen sie an, sich selbst Regeln zu geben, da sie geschützt sein wollten vor Übergriffen und Diebstählen. Außerdem sollte es Gerechtigkeit geben und Anerkennung der Arbeit Einzelner.

Und so wurde das Minecraft-Projekt zu einer Lernplattform der demokratischen Bildung par excellence 🙂

Zum Stichtag führte jeder stolz seine Wohnung vor, erklärte seine Absichten und Design-Ideen, wurde gelobt und nach zwei Tagen Diskussion in der Jury des Jugendtreff-Teams stand der Sieger fest. Die anderen erhielten jeweils Preise in einer Kategorie und so waren alle glücklich, die es bis zum Ende geschafft hatten.

Level up! durch Algebra

Wer Bildschirmspiele spielt, weiß, wie unglaublich motivierend Spiele heutzutage gestaltet sind. Man mag kaum aufhören, will die nächste Herausforderung meistern, das nächste Level erreichen, Belohnungen einsacken, das Rätsel knacken oder den Gegner besiegen. Fast jede Anstrengung wird belohnt, jeder Spieler erlebt etliche Erfolge und die virtuellen Lorbeerkränze erzeugen manch neidvollen Blick der Mitspieler. Und dabei haben die Game-Designer immer im Blick, dass es nie zu einfach werden darf. Niemand möchte ein Spiel, in dem Hinz und Kunz ohne Kenntnisse und Fähigkeiten Belohnungen nach geworfen kriegen (na ja, bis auf die Farmville- oder Candy Crush-Fans*).

Schon lange denke ich mir (als passionierte World-of-Warcraft-Spielerin), dass man solche Motivationsmechanismen in der Schule oder Kinder- und Jugendarbeit einsetzen sollte. Und siehe da!- seit mehreren Jahren tut das einer. In Österreich, dem medientechnisch etwas innovativeren Nachbarland vergibt Christian Haschek als Lehrer sogenannte XP.  Das sind in jedem Game die Erfahrungspunkte, die es für das Abschließen von Quests (Aufgaben), das Entdecken von Gegenden, das Besiegen von Gegnern uvm. gibt. Lehrer Haschek vergibt die Punkte für Referate, Schulaufgaben, Wortmeldungen im Unterricht.  Das Besondere: Er trägt die Punkte für jeden Schüler sofort in eine online abrufbare Tabelle ein, wo der „Erfahrungsbalken“ der Schüler stetig wächst. Wenn der Balken voll ist, steigen die Schüler eine Note auf. Beginnen tun sie mit Note Fünf und arbeiten sich langsam hoch. Es gibt nur ein Aufwärts- gewonnene Erfahrung verliert man schließlich nicht. Und auch jene, die bereits die Bestnote erreicht haben, strengen sich immer noch an, obwohl sie nichts verlieren können. Aber sie haben Anstrengung und den Gewinn von Wissen als positiv erlebt und machen daher weiter.

Auch die amerikanische Spieleentwicklerin Jane McGonigal beschreibt in ihrem Buch „Besser als die Wirklichkeit“ eine Schule, an der sie Mechanismen aus Computerspielen sehr erfolgreich eingeführt hat: Zu Schuljahresbeginn sollen die Schüler innerhalb der Klasse herausfinden, wer wo am meisten Talent hat: Algebra, Geometrie, Schnellrechnen?
Dann bekommen die Schülerinnen und Schüler gemäß ihren Talenten Aufgaben, die sie lösen müssen, um „Ressourcen“ für den Kampf gegen den Endboss  zu sammeln. Und sie müssen üben, damit sie beim Bosskampf ihren Teil beitragen können. Gewinnen oder verlieren kann nur die ganze Klasse. Die Klassen gewinnen immer- denn diese Positiv-Orientierung ist zusammen mit den spielerischen Elementen für Kinder und Jugendliche extrem motivierend.

Als ich das erste iPad kaufte und die App „Geomaster“ installierte, fing meine sonst nicht übermäßig lernbegeisterte, damals 13-Jährige an, Länder und Hauptstädte zu lernen durch das Spielen des Spiels. Und die nächste Ex wurde eine glatte Eins (zufällig waren Hauptstädte das Thema).

Ich kann natürlich den Chor der (Schul-)geister hören, die alle rufen: „Das Leben ist kein Spiel!“ oder „Was sollen Lehrer denn noch alles machen?“ oder auch „Früher war alles besser. Da kannten die Kinder noch Disziplin!“.
Christian Haschek hat vor allem Erfolg bei den bislang schlechteren Schülern. Die guten Schüler bleiben gut, egal wie schlecht der Unterricht ist. Und genau da werden die Probleme des Bildungssystems auch verortet: Bei den schlechten Schülern, bei den Abbrechern. Nahezu 20 % der Schülerinnen und Schüler verlassen die Mittelschule ohne Abschluss.

Was also ist das Geheimnis der Spielelemente in Lerninstitutionen?

1. Der Lernerfolg ist sichtbar
2. Feste Punktwerte für verschiedene Aufgaben machen Lernerfolg planbar
3. Erreichte Erfolge gehen nicht verloren – sie sind sicher
4. Gute Noten werden durch Arbeit erreichbar

Jeder Versuch, weniger bildungsverlorene Generationen zu produzieren, ist es wert. Ohne Schulabschluss und Bildung, ohne Motivation und Glauben an sich selbst ist das Leben nämlich überhaupt kein Spiel mehr.

 

*=Beide Spiele werden eher aus meditativen Gründen gespielt und haben die Schwierigkeitsstufe des beliebten Etiketten-abfitzeln-und-daraus-Papierkügelchen-drehen.