Archiv für den Monat: Juni 2015

Level up! durch Algebra

Wer Bildschirmspiele spielt, weiß, wie unglaublich motivierend Spiele heutzutage gestaltet sind. Man mag kaum aufhören, will die nächste Herausforderung meistern, das nächste Level erreichen, Belohnungen einsacken, das Rätsel knacken oder den Gegner besiegen. Fast jede Anstrengung wird belohnt, jeder Spieler erlebt etliche Erfolge und die virtuellen Lorbeerkränze erzeugen manch neidvollen Blick der Mitspieler. Und dabei haben die Game-Designer immer im Blick, dass es nie zu einfach werden darf. Niemand möchte ein Spiel, in dem Hinz und Kunz ohne Kenntnisse und Fähigkeiten Belohnungen nach geworfen kriegen (na ja, bis auf die Farmville- oder Candy Crush-Fans*).

Schon lange denke ich mir (als passionierte World-of-Warcraft-Spielerin), dass man solche Motivationsmechanismen in der Schule oder Kinder- und Jugendarbeit einsetzen sollte. Und siehe da!- seit mehreren Jahren tut das einer. In Österreich, dem medientechnisch etwas innovativeren Nachbarland vergibt Christian Haschek als Lehrer sogenannte XP.  Das sind in jedem Game die Erfahrungspunkte, die es für das Abschließen von Quests (Aufgaben), das Entdecken von Gegenden, das Besiegen von Gegnern uvm. gibt. Lehrer Haschek vergibt die Punkte für Referate, Schulaufgaben, Wortmeldungen im Unterricht.  Das Besondere: Er trägt die Punkte für jeden Schüler sofort in eine online abrufbare Tabelle ein, wo der „Erfahrungsbalken“ der Schüler stetig wächst. Wenn der Balken voll ist, steigen die Schüler eine Note auf. Beginnen tun sie mit Note Fünf und arbeiten sich langsam hoch. Es gibt nur ein Aufwärts- gewonnene Erfahrung verliert man schließlich nicht. Und auch jene, die bereits die Bestnote erreicht haben, strengen sich immer noch an, obwohl sie nichts verlieren können. Aber sie haben Anstrengung und den Gewinn von Wissen als positiv erlebt und machen daher weiter.

Auch die amerikanische Spieleentwicklerin Jane McGonigal beschreibt in ihrem Buch „Besser als die Wirklichkeit“ eine Schule, an der sie Mechanismen aus Computerspielen sehr erfolgreich eingeführt hat: Zu Schuljahresbeginn sollen die Schüler innerhalb der Klasse herausfinden, wer wo am meisten Talent hat: Algebra, Geometrie, Schnellrechnen?
Dann bekommen die Schülerinnen und Schüler gemäß ihren Talenten Aufgaben, die sie lösen müssen, um „Ressourcen“ für den Kampf gegen den Endboss  zu sammeln. Und sie müssen üben, damit sie beim Bosskampf ihren Teil beitragen können. Gewinnen oder verlieren kann nur die ganze Klasse. Die Klassen gewinnen immer- denn diese Positiv-Orientierung ist zusammen mit den spielerischen Elementen für Kinder und Jugendliche extrem motivierend.

Als ich das erste iPad kaufte und die App „Geomaster“ installierte, fing meine sonst nicht übermäßig lernbegeisterte, damals 13-Jährige an, Länder und Hauptstädte zu lernen durch das Spielen des Spiels. Und die nächste Ex wurde eine glatte Eins (zufällig waren Hauptstädte das Thema).

Ich kann natürlich den Chor der (Schul-)geister hören, die alle rufen: „Das Leben ist kein Spiel!“ oder „Was sollen Lehrer denn noch alles machen?“ oder auch „Früher war alles besser. Da kannten die Kinder noch Disziplin!“.
Christian Haschek hat vor allem Erfolg bei den bislang schlechteren Schülern. Die guten Schüler bleiben gut, egal wie schlecht der Unterricht ist. Und genau da werden die Probleme des Bildungssystems auch verortet: Bei den schlechten Schülern, bei den Abbrechern. Nahezu 20 % der Schülerinnen und Schüler verlassen die Mittelschule ohne Abschluss.

Was also ist das Geheimnis der Spielelemente in Lerninstitutionen?

1. Der Lernerfolg ist sichtbar
2. Feste Punktwerte für verschiedene Aufgaben machen Lernerfolg planbar
3. Erreichte Erfolge gehen nicht verloren – sie sind sicher
4. Gute Noten werden durch Arbeit erreichbar

Jeder Versuch, weniger bildungsverlorene Generationen zu produzieren, ist es wert. Ohne Schulabschluss und Bildung, ohne Motivation und Glauben an sich selbst ist das Leben nämlich überhaupt kein Spiel mehr.

 

*=Beide Spiele werden eher aus meditativen Gründen gespielt und haben die Schwierigkeitsstufe des beliebten Etiketten-abfitzeln-und-daraus-Papierkügelchen-drehen.

 

 

Der perfekte Virenschutz

An einem Freitag Abend im Juni fragte mich meine 20-jährige Tochter, ob man etwas gemeinsam unternehmen könne. Allerdings war das arme Ding erbärmlich erkältet, schnupfte und hustete wie eine Weltmeisterin und von daher verboten sich irgendwelche Unternehmungen die mit Anstrengungen oder mit Gesellschaft verbunden waren von selbst. Kurz zuvor hatte sie (um Kontakt mit weit entfernt lebenden Cousinen zu halten) einen Minecraft-Server gemietet- für 4 Euro monatlich. Und nun beschlossen wir, einen Familienabend dort zu verbringen- ein jeder an seinem PC in seiner Wohnung und nur vertreten durch einen pixeligen Minecraft-Avatar.

Man verabredete den ungefähren Zeitpunkt per Threema (der Schweizer Alternative zu WhatsApp) und traf sich dann eine Viertelstunde später in dem kleinen Minecraft-Dorf, wo jeder von uns bereits ein bescheidenes oder auch (im Falle meines Liebsten) ein protziges Anwesen besaß. Per eingebautem Chat verständigten wir uns zu viert auf einen Plan: Wir wollten gemeinsam den vor der Küste befindlichen Unterwasser-Tempel raiden. Doch ach, was es dazu alles brauchte: Tränke für Unterwasseratmung beispielsweise. Wie man die herstellte, wusste meine 17-Jährige: Mit einem Braustand. Dazu brauchte es jedoch eine Lohenrute- erbeutet von besiegten Lohen. Diese lebten im unterirdischen Nether, zu dem man nur durch spezielle Portale gelangen konnte. Eins davon hatte jedoch dankenswerterweise meine vielspielende 17-Jährige bereits im Keller ihres pittoresken Fachwerkhäuschens installiert. Sie riet uns auch, nur mit Eisen gerüstet und mit Schwertern bewaffnet in den gefährlichen Nether zu gehen. Sofort setzte ein fröhliches Handeln und Tauschen, ein Schmieden und Anprobieren ein, bis jedes Familienmitglied gut gerüstet und bewaffnet war.

Wir betraten den Nether und staunten über rot glühende Lavaseen und gefährlich hohe Netherfelsen. Die 17-Jährige suchte nach der von ihr entdeckten Netherfestung, fand sie aber nicht wieder. „Das geht nur fliegend“, erklärte sie uns und schaltete flugs in den „Kreativ-Modus“, in dem sowas und auch alles andere kinderleicht geht. Heftiger Protest der Familie! Wir wollten nicht die Weichei-Version, wir wollten keine „Cheater“ sein! Also wurde sich zu Fuß durch Berge gebuddelt (ein Lava-Opfer), es wurden riesig lange Brücken über Lavaseen gezogen (ein Lava-Opfer, lustigerweise dasselbe wie vorhin) und nach ein paar Mal Verlaufen waren wir da, eroberten die Festung, besiegten die Lohen, erbeuteten jeder eine Lohenrute und noch einmal gab es ein Lava-Opfer, was es uns jedoch ermöglichte, uns zum Opfer und damit ins sichere Zuhause zu teleportieren.

Nun konnten wir Braustände erbauen, um dort Tränke herzustellen. Für den Unterwassertrank wurden Kugelfische benötigt, die erst noch zu angeln waren. Eins der Kinder verteilte Angeln an alle und so standen wir im Mondlicht um den Dorfteich herum und angelten Stiefel, Seerosen und gelegentlich auch Kugelfische und unterhielten uns dabei per Chat über die Abenteuer im Nether, über Referate fürs Studium und über diverse Zimmer-Umbau-Pläne.  Es war spät geworden, die Kranken und Gesunden mussten ins Bett und der Plan, den Unterwassertempel zu raiden, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

Es war ein schöner Abend mit der Familie und absolut virensicher, da die schnupfende 20-Jährige eine eigene Wohnung bewohnt. Die 17-Jährige konnte alles zeigen, was sie drauf hat (das ist für das „Küken“ der Familie nicht immer so einfach) und wir Eltern haben uns einmal mehr als Gesellschaft für einen coolen und lustigen Abend qualifiziert.*

*= Das funktioniert mit vielen Dingen: Lasertag spielen, Escape-Rooms besuchen oder einen Live-Stream der gamescom schauen, aber auch Essen gehen oder Häkeln vor dem Fernseher gelten als Aktivitäten, die man gern mit seinen Eltern macht, sofern diese „cool“ sind. Und das sind wir halt 😉